- Kommunitarismus: Politische Philosophie zwischen Tradition und Universalismus
- Kommunitarismus: Politische Philosophie zwischen Tradition und UniversalismusVieles scheint am Ende des 20. Jahrhunderts darauf hinzudeuten, dass sich die Menschheit unumkehrbar auf dem Weg in die »Weltgesellschaft« befindet: Handels- und Verkehrsnetze, Geld- und Informationsströme erstrecken sich über den ganzen Globus; die größten Distanzen lassen sich mithilfe moderner Telekommunikationsmedien in kürzester Zeit überbrücken. Freihandel und ökonomischer Wettbewerb, Menschenrechte und Demokratisierung haben sich zu Grundprinzipien entwickelt, die von den meisten Regierungen der Welt (zumindest offiziell) anerkannt werden. Der globale Trend zur gesellschaftspolitischen und ökonomischen Uniformierung und Orientierung an den säkularisierten westlichen, kapitalistisch und liberaldemokratisch organisierten Staaten hat sich durch den Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Osten verstärkt. - Entgegen der These, dass diese Vereinheitlichung der Welt und ihre Zusammenschrumpfung zum »globalen Dorf« das »Ende der Geschichte« bezeichne, diagnostizieren einige Beobachter jedoch zugleich eine wachsende kulturelle Entfernung und eine sich verschärfende Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, sowohl im globalen Maßstab als auch innerhalb industrialisierter Staaten, in denen Menschen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft sowie religiöser Ausrichtung zusammenleben.Der westliche liberale Nationalstaat wird allerdings nicht nur politisch durch Globalisierung und Multikulturalismus herausgefordert, sondern auch philosophisch durch historisierende und relativierende Strömungen, welche die universelle Geltung liberaler Grundprinzipien des Individualismus wegen ihrer spezifisch abendländischen Prägung infrage stellen. In der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion über Universalismus und Partikularismus lassen sich vier Grundpositionen unterscheiden, die die Frage, was politische und soziale Normen und Regelungen des Zusammenlebens zu begründen und zu rechtfertigen vermag und woraus politisch-soziale Gemeinwesen die für die soziale Integration erforderliche Gemeinwohlorientierung beziehen, unterschiedlich beantworten.Essenzialistische Positionen, die ihre Argumente vor allem in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Tradition entwickeln, setzen kulturunabhängige menschliche Grundbedürfnisse voraus, neben Ernährung und Fortpflanzung etwa auch das Bedürfnis nach Natur, nach Spiel und Kunst. Darüber hinaus nehmen sie spezifische menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die zu entwickeln im Interesse eines jeden Individuums liege. Hieraus ergebe sich die Möglichkeit, nicht nur einen Katalog universeller Rechte zu definieren, sondern die »Qualität des Lebens« in verschiedenen Kulturen nach dem Kriterium der Verwirklichung der menschlichen Natur von einem neutralen Standpunkt aus zu beurteilen.Liberale Positionen, die meist in der Kantischen Tradition stehen, betrachten einen solchen Versuch, die Merkmale gelingenden Lebens kulturübergreifend festzulegen, mit Skepsis. Dazu scheint ihnen die menschliche Natur zu veränderlich und kulturbedingt zu sein. Sie setzen ihr Vertrauen jedoch in die menschliche Vernunft- und Sprachfähigkeit und leiten daraus die Idee ab, dass es allgemein gültige Verfahren gebe, die verbindliche rechtliche und politische Regelungen zu rechtfertigen vermögen. Alle von einer bestimmten Regelung Betroffenen müssten die Chance haben, sich Gehör zu verschaffen; und ihre Einwände müssten berücksichtigt werden, sofern sie als vernünftig erschienen. Individuelle Freiheiten dürften nur dann beschnitten werden, wenn dies im verallgemeinerbaren Interesse aller liege. Zwang dürfe daher niemals durch eine partikulare Konzeption des Guten gerechtfertigt werden; das Rechte habe stets Vorrang vor dem Guten. Die einzelnen Verfahren variieren nach Richtung der liberalen Positionen. Ihre Hauptströmungen umfassen diskurstheoretische Ansätze im Anschluss an Jürgen Habermas, nach denen in einem möglichst »herrschaftsfreien Diskurs« jeweils zu ermitteln ist, was als verallgemeinerbares Interesse gelten kann, und vertragstheoretische Ansätze, die, wie etwa John Rawls, mit der Fiktion eines Urzustands operieren.Der Kommunitarismus, als dessen theoretische Vordenker Charles Taylor, Michael Walzer, Michael Sandel und Alasdair MacIntyre gelten können, richtet sich kritisch gegen die liberalindividualistischen Positionen und lehnt deren verfahrensethischen Ansatz aus zwei Gründen ab: Zum einen erschienen die liberalen Prinzipien nur »vernünftig« und zustimmungsfähig vor dem Hintergrund der abendländischen Kultur und ihrer Traditionen; was den Liberalen als neutrale Grundlage für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und als Ideal gelingenden Lebens erscheine, sei Ausdruck einer bestimmten Kultur und ihrer Konzeption des Guten. Zum anderen griffen gerade das Bemühen um kulturelle Neutralität sowie die Beschränkung auf formale und individuelle Rechte die Fundamente auch der liberalen Gesellschaften an, weil jedes intakte soziale Zusammenleben auf eine allgemein gültige Definition des Guten und auf gemeinsame Werte angewiesen sei. Kommunitaristen nehmen also mit den Essenzialisten an, dass Gemeinschaften nicht ohne eine allgemein anerkannte Definition von substanziellen Werten und kulturellen Gütern auszukommen vermögen, die allein eine verbindliche Festlegung des Rechten ermöglichen; daher habe das Gute Vorrang vor dem Rechten. Sie gehen jedoch mit den Liberalen davon aus, dass solche Werte und Güter nur innerhalb partikularer Kulturen und Gemeinschaften entstehen und als »rational« erscheinen können. Entgegen den beiden universalistischen Positionen betont der Kommunitarismus daher die unaufhebbare Partikularität aller Vorstellungen des Guten und Rechten und verzichtet deshalb auf kulturübergreifende Ordnungsvorschläge.In diesem Punkt stimmt der Kommunitarismus mit »postmodernen« Positionen überein, zu denen auch poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theorien zu rechnen sind. Nach ihnen sind alle normativen Orientierungen und moralischen Systeme historisch kontingent: Sie stellen das Ergebnis von »Sprachspielen« und den damit verknüpften Lebensformen dar, die stets das jeweils Abweichende, Nicht-Artikulierbare, »Andere« auszuschließen oder einzuschränken versuchen und die daher immer auch als Ausfluss spezifischer Macht- und Autoritätsstrukturen verstanden werden müssen. Weder gemeinschaftliche kulturelle Güter und Wertsysteme noch gemeinsame Diskurse oder andere Verfahren könnten eine legitimierende Funktion haben; sie alle hätten die Tendenz, Normen aufzustellen und das Differente zu unterdrücken. Postmoderne Strömungen misstrauen grundsätzlich sowohl der Konzeption einer universellen Vernunft als auch der Idee individueller Autonomie, die sie als einseitiges Produkt des abendländischen Logozentrismus zu entlarven trachten. Jede Form von Politik, Recht und Moral lässt sich auf diese Weise als repressiv oder ideologisch dekonstruieren; allerdings ist es für diesen Ansatz unmöglich, eine repressionsfreie Ordnungs- oder Moralkonzeption als Gegenentwurf zu entwickeln. Jede der drei anderen Positionen erscheint aus postmoderner Perspektive zwangsläufig als »kulturimperialistisch«.Von der sozialphilosophischen Diskussion um diesen Themenkomplex fand vor allem die Kontroverse zwischen Kommunitaristen und Liberalen, die Kommunitarismus-Debatte, ein großes gesellschaftliches Echo. Entgegen der verbreiteten Meinung ging es dabei nicht um die Frage, ob dem Individuum oder der Gemeinschaft in normativer Hinsicht der Vorrang gebühre. Auch ist es verfehlt, dem Kommunitarismus generell kollektivistische Tendenzen zu unterstellen; denn er zielt nicht prinzipiell auf eine Zurückstufung des Individuums zugunsten der Gemeinschaft. Er kann vielmehr als eine Reflexion über die institutionellen und kulturellen Bedingungen individueller Freiheit und die soziokulturellen Voraussetzungen gelingender personaler Identität verstanden werden, um die es letztlich auch dem Liberalismus zu tun ist.Am Ausgangspunkt der kommunitaristischen Überlegungen steht die Einsicht, dass Individuen weder ihre Identitäten noch ihre sozialen Beziehungen frei und autonom wählen, um ihre individuell gesetzten Ziele zu verwirklichen, sondern dass sie in ihrer Identität und ihren Zielen entscheidend geprägt sind durch eben diejenigen Beziehungen und Gemeinschaften, die ihnen den kulturellen Rahmen sinnvoller Optionen erst zur Verfügung stellen. Soziale Beziehungen und Gemeinschaften sind daher nicht instrumentell als gewählte Assoziationen zur Verwirklichung individueller Ziele aufzufassen, sondern als konstitutive Momente im Leben der Individuen. Hieraus leitet sich ein doppelter Anspruch ab: Wenn Individuen in ihrer Identität und ihren Optionen entscheidend geprägt sind durch die sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen ihres Gemeinwesens, dann stellt dieses Gemeinwesen als soziale Umwelt ein Gut für diese Individuen dar, dessen Schutz, Pflege und Gestaltung im Sinne einer »sozialen Ökologie« in ihrem eigenen Interesse liegt. Zugleich gehört es zur Idee autonomer demokratischer Selbstbestimmung, dass die für das gemeinschaftliche (und eben nicht nur: gesellschaftliche) Leben zentralen Strukturen, Institutionen und Praktiken auch wirklich von den Mitgliedern des Gemeinwesens gesteuert und kontrolliert werden können. Deshalb geht der Kommunitarismus meist mit der politischen Forderung nach Verbesserung demokratischer Selbstverwaltung und Mitbestimmung einher.Außerdem schaffen die Anerkennung der sozialen Bedingtheit und der kulturellen Geprägtheit der Individuen und die daraus erwachsende Wertschätzung des Gemeinwesens als »gemeinsames Projekt« nach Ansicht der Kommunitaristen erst die Motivation dafür, die Idee sozialer Gerechtigkeit politisch zu verwirklichen und demokratische Mitbestimmung aktiv wahrzunehmen. Während der Liberalismus zwar eine Vielzahl individueller Rechte zu begründen vermag, aber die Rechtfertigung der korrespondierenden Pflichten und vor allem die Gewinnung der Motive für ihre Übernahme schuldig bleibt, trägt der Kommunitarismus nach Ansicht seiner Vertreter beiden Seiten Rechnung.Mit solchen Überlegungen hat der Kommunitarismus die engen Grenzen des philosophisch-akademischen Diskurses überschritten und sich - vor allem durch die Initiative des deutsch-amerikanischen Soziologen Amitai Etzioni - zu einer politisch-sozialen Reformbewegung ausgeweitet, die durch eigene Zeitschriften, Manifeste, Versammlungen und kommunale Experimente durchaus erfolgreich versucht, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Er entzieht sich dabei der Einordnung in ein einfaches politisches Links-Rechts-Schema und erweist sich als offene Strömung, die an sehr unterschiedliche politische Programmatiken angeschlossen werden kann.Dr. Hartmut RosaGeschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.Höffe, Otfried: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt am Main 41992.Hösle, Vittorio: Praktische Philosophie in der modernen Welt. München 21995.Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, herausgegeben von Kurt Bayertz. Reinbek 1994.Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. 4 Bände. Stuttgart 1-81987—89.
Universal-Lexikon. 2012.